Inspirierende Texte und Gedanken

Ein Licht im Fenster

von Heidi Saladin aus dem Buch „Hoffnungsgeschichten“

Herausgeber: Karl-Heinz Heilig

 

Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Mein Atem gefror unmittelbar und bildete einen weißen Kranz oberhalb meines weißen Halstuches, das ich um die untere Gesichtshälfte geschlungen hatte. Selbst am Rand meiner tief ins Gesicht gezogenen Kapuze hingen Eiskristalle, die mit jedem Atemausstoß dichter wurden. Es war der 23. Dezember. Das Thermometer zeigte –36°C. Ich war auf dem Heimweg. Die Faszination einer nordischen Winternacht ist nur schwer zu erklären. Es ist etwas, das man erlebt haben muss, um es ganz erfassen zu können. Da lag der See unter einer dicken Schnee- und Eisdecke, weiß glitzernd wie der Adventskalender meiner Kindheit, und weiter hinten sah ich das Weiß der verschneiten Berge und Tannen, das den nachtdunklen Himmel noch schwärzer erscheinen ließ. Kein Lichtschein einer größeren Ortschaft störte seine erhabene Tiefe, abgesehen vom Aufzucken vereinzelter Nordlichter. Die Sterne erschienen riesig groß und schillerten in allen Farben – die Stille war vollkommen. Obwohl mich die Kälte wie mit Eisenfäusten zusammenpresste, verspürte ich ein zunehmendes Glücksgefühl. Ich wusste, dass weiter vorne unser Haus unter den Schneemassen auf mich wartete, mit trockenem Holz und zwei Feuerstellen: bereit, mich seelisch und körperlich zu erwärmen. Meine Freude verstärkte sich noch im Hinblick auf zwei Tage Freizeit, da unser Betrieb an Weihnachten geschlossen war. Die einzigen Lichter, die zu sehen waren, standen in den Fenstern der verstreuten Höfe und Häuser.

 

Bei Hildur, unserer Nachbarin, brannte ein Licht in jedem Fenster. Hildur ist eine ältere alleinstehende Frau, die zurückgezogen nur für ihre Tiere lebt. Das heißt: für fünf Kühe und sechs Katzen und einige Kanarienvögel (wie die Vögel so viele Katzen überlebten, ist mir heute noch ein Rätsel). Ich beschloss, kurz bei Hildur hineinzuschauen, um sie für den 24. Dezember zu uns einzuladen. Meine Nachbarin lehnte dankend aber entschieden ab mit der Begründung, das Haus unmöglich verlassen zu können. Am Heiligabend, nach dem Julbord, dem traditionellen Weihnachtsessen, kam mir die Idee, Hildur mit einem großen Pfefferkuchenherz ein frohes Fest zu wünschen. Gut eingepackt in einen dicken Parka und mit fellgefütterten Stiefeln begab ich mich auf den Weg. Als sich auf mein Anklopfen an der Haustür nichts regte, schaute ich im Stall nach, und dort saß Hildur auf einem Stuhl dicht bei den Kühen und las laut aus der Bibel vor.

 

Sie hielt inne, als ich eintrat und hielt den Zeigefinger vor ihre Lippen, um mir ihr Schweigen zu gebieten. Es war eine eigenartige Stimmung: der Stall, die Wärme, Hildur auf dem Stuhl mit der Bibel in der Hand, mit ihrer etwas spröden Stimme die Weihnachtsgeschichte erzählend, die Kühe ruhig und zufrieden, die sich im Stroh balgenden Katzen und natürlich das Licht, das selbst im Stallfenster nicht fehlte. Ich stand ganz still, bis Hildur zu Ende gelesen hatte. Dann erhob sie sich, kraulte jedem Tier den Kopf und verließ anschließend mit mir den Stall.

 

„Das ist meine Art, Weihnachten zu feiern“, erklärte sie mir, während sie in der Küche das Teewasser aufsetzte. Im Küchenfenster brannte ebenfalls ein Licht. „Ja“, antwortete Hildur auf meine Bemerkung über die Lichter in ihren Fenstern, „das ist ein Brauch, der aus der Not heraus entstanden ist. Wie du weißt, ist der Winter hier mehr als nur hart, und manch einer verdankt sein Leben einem Licht im Fenster, der sonst in Sturm und Kälte für immer draußen geblieben wäre.“ An dieser Stelle schwieg Hildur und schien an mir vorbei ins Leere zu schauen. „Ist da etwas, das dir nahe geht?“ fragte ich vorsichtig. „Es ist schon eine gute Weile her ...“ begann Hildur abwesend zu erzählen, „im Dezember vor achtundzwanzig Jahren: Der Sturm tobte schon seit zwei tagen und der Schnee türmte sich zu unüberwindlichen Barrieren auf. Die einzige Möglichkeit für mich, die zwanzig Meter bis zum Stall zu bewältigen, bestand darin, dass ich ein Seil an der Außentüre befestigte, um mich, daran festhaltend, zum Stall durchkämpfen zu können. Sollte es mir nicht gelingen bis zum Stall durchzukommen, hätte ich auf diese Weise wenigstens wieder zum Haus zurückfinden können. Ich durfte auf keinen Fall stürzen oder das Seil loslassen, sonst wären meine Minuten gezählt gewesen. Am Abend des zweiten Unwettertages fiel der Strom aus. Für mich war das nicht so tragisch, da ich die Öfen ohnehin mit Holz befeuere und im Winter auch keine Kühlaggregate für die Milch brauche. Ich tastete in der Dunkelheit nach den Zündhölzern und Kerzen, in deren Schein es gleich wieder gemütlich wurde. Danach begann ich, die elektrischen Lämpchen in den Fenstern auf die Seite zu schieben, um sie durch Petroleumlampen zu ersetzen. So saß ich an diesem Abend Stunde um Stunde, wie in manchem Winter zuvor und wartete auf die Wetterbesserung oder zumindest auf die Rückkehr der Elektrizität oder auf sonst weiß was. Auf einmal wurde mir bewusst, dass außer dem Sturmgetöse noch andere Geräusche zu hören waren. Ich begann, aufmerksam zu horchen und nahm plötzlich zusätzlich eine Bewegung vor dem Küchenfenster wahr. Nach dem ersten Schrecken wurde mir klar, dass da ein Mensch Hilfe brauchte. Verzweifelt bemühte ich mich, zur Tür hinauszukommen. Ich wusste, dass jede Minute kostbar war. Draußen tobte der Schneesturm, und ich arbeitete mich am Seil festhaltend an der Wand entlang, bis ich auf eine zusammengesunkene, bewusstlose männliche Gestalt traf. In meinen Versuchen, den Sturm zu übertönen, schrie ich auf den Mann ein und trat ihn mit meinen Stiefeln so lange in die Seite, bis er wieder zu Bewusstsein kam. Er klammerte sich an mich und so schleppten wir uns ins Haus.

 

Woher er kam, weiß ich nicht. Wohin er später ging, weiß ich auch nicht. Das was blieb, waren vier wunderbare Tage. Er spielte Stücke von Beethoven und Bach wie ein Gott auf meinem alten Klavier. Er half mir im Stall, tüchtig wie ein Bauer. Gesprochen haben wir nicht viel. Wir verstanden uns ohne Worte. Am fünften Tag war er weg. Auf dem Küchentisch lag die meisterhafte Zeichnung eines Lichts im Fenster, und darunter stand nur ‘Danke´.“

 

Es dauerte recht lange, bis Hildur in die Gegenwart zurückfand. Aber da war ein Leuchten in ihren Augen, wie der Abglanz des Lichtes im Fenster.

 

Wie viel menschlicher wäre doch diese Welt, wenn in jedem Fenster ein Licht brennen würde. 


Schale der Liebe

Bernhard von Clairvaux (1090-1153)

 

Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und 

weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. 

 

Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. 

Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott. 

Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit 

Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. 

 

Du tue das Gleiche! 

Zuerst anfüllen und dann ausgießen. 

Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen. 

Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? 

Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle; 

 

wenn nicht, schone dich.